Bums !
Eine Fußball-Tragödie
Im Labor in seinem Hobbykeller,
direkt neben der Hausbar, macht der Mann angestrengt und mit
schweißnassem Gesicht die letzten Handgriffe an einer Kugel von
ungefähr 225 mm Durchmesser. Vorsichtig schiebt er einen länglichen
Hohlkörper aus Plastik durch die mit schwarzen und weißen Penta-
und Hexaedern versehenen Hülle. Fertig. Er wiegt das Gerät in der
Hand; so circa drei Kilogramm, nicht schwerer als ein mittelgroßer
Medizinball. Ein zufriedenes Grinsen geht über sein Gesicht, als er
den Panzerschrank öffnet und die Kugel hineinlegt. Nein, er hat auch
keine Angst, mit so einem Ding im Haus zu leben, sein bürgerlicher
Beruf von früher läßt ihn sicher sein, keinen Fehler gemacht zu
haben.
Je näher die Fertigstellung dieses
Dings heranrückte, um so ruhiger wurde er; das Ding war eine Art
Rückversicherung für seine letzte Vernunft in dem erklärten Krieg,
den er nun endlich angenommen hatte. Eines wußte er: Es wird keine
Gewinner geben. Ob das auch seine Gegner so sahen war ihm egal,
vermutlich sahen sie dies anders.
Oben im Fernsehzimmer biegt seine
Frau den Kopf zurück, als er ihr zur Begrüßung einen Kuss geben
wollte. Nun ja, an ihm soll es nicht scheitern, er gibt sich immerhin
Mühe.
„Schirmer hat angerufen. Du sollst
zurückrufen“, sagt sie und geht in die Küche. Der Blick, den sie
ihm beim Schließen der Schiebetür zuwirft läßt zweifelsfrei
erkennen, daß sie die Abendnachrichten im Fernsehen gesehen hat.
, Der Schirmer kann mich mal. Wenn
er was will, soll er gefälligst seinen fetten Hintern hierhin
bewegen. Und überhaupt: Das Interwiev neulich war von mir nicht zum
Senden genehmigt, mit diesen Pressefuzzis gibt es wohl in der
nächsten Woche Terror. Denen rotze ich ihre Objektive mal kräftig
von oben bis unten voll. '
Seine Frau kommt aus der Küche, der
Servierwagen rattert fein über die Fußbodenfliesen: „Hast du
Schirmer angerufen?“ fragt sie, nimmt schlürfend einen Schluck
Tee, und schaut ihn schräg von der Seite an.
„Nein. Ich sehe ihn sowieso
übermorgen im Trainingslager.“
„Was hast du dir nur bei dem
Interwiev gedacht? Schirmer kann dich immer noch rausschmeißen“,
sagt sie.
„Ich habe diese Gelabere über uns
satt. Die sollen uns in Ruhe lassen. Ich bin in der
Nationalmannschaft, und das muß genügen.“ Er will sich eine
Zigarette anzünden, legt sie aber weg, als er ihren strafenden Blick
bemerkt.
„Du bist deswegen auch eine Person
von öffentlichem Interesse. Wundere dich nicht, wenn die
Öffentlichkeit auch Interesse an deinem Privatleben hat.“
„Aber ich will das nicht“, sagt
er, „der Bundeskanzler und der Präsident sind auch Leute von
öffentlichem Interesse, und von denen kommt von sowas nie in die
Zeitungen und ins Fernsehen, oder wird ganz schnell dann abgewürgt.“
„Klar, Mann!“, spottet sie, „die
haben ja auch keinen Werbevertrag mit Koofmich, Beschiß und Betrug,
Habgier und Gewinnsucht.“
„Aber du, mit deinen
Softpornoaufnahmen! Was meinst du, welche Mutmaßungen ich mir über
deine Titten und dein Dings-Bums beim Training anhören muß.“
Sie zuckt empört mit dem Kopf hoch:
„Ich finde das total unangebracht und frauenfeindlich, wie du über
meinen Körper redest.“
„Ja, was glaubst du denn, wie
Männer über Frauen reden, die sich so wie du darstellen? Meinst du,
die reden über Vulva, Brustwarzen oder Venushügel, oder über
Po-Backen und so' n Scheiß? Da sind Muschi und Möse, Arschbacken
und Pißnelke noch die harmlosesten Ausdrücke!“
Sie schaut ihn mehr verwundert als
empört an und sagt: „Das habe ich nicht gewußt.“
„Ach, hör bloß auf, das kannst
du dir doch denken. Du bist doch nicht von Dummebacken.“
Sie rückt näher an ihn heran,
fragt besänftigend, ob er noch Tee nachgegossen haben möchte – er
will – und sagt dann: „Du weißt doch, daß wir Beide Verträge
haben. Du warst ja auch einverstanden, daß ich bei der Modellagentur
angefangen habe. Du wußtest auch, was im Hinblick auf Nacktfotos auf
mich zukam. Und jetzt habe ich das Gefühl, daß du neidisch bist,
weil ich mehr anschaffe als du mit deinem Sportbekleider und dem
Suppenkasper.“
Der Suppenkasper sitzt: von wegen ,
Kraft auf den Tisch, Saft in den Bauch '. Wütend redet er los: „Es
reicht, wenn ich von diesem blödsinnigen haufen auf'm Spielfeld
ausgelacht werde. Dann brauch' ich mich nicht auch noch von meiner
Frau verspotten zu lassen! Ist ja möglich, du verdienst dabei mehr
wie ich, aber du brauchst dir nicht Stahlkugeln und Bierdosen ins
Kreuz werfen zu lassen. Wie ich diese Pack hasse! Eines tags lernen
die mich mal richtig kennen.“
Sie vernimmt durchaus den drohenden
Unterton und sagt: „Denk daran. Dieses , Pack ' bezahlt teuer
Geld, um dich spielen zu sehen. Von dem Geld leben wir, leben wir
gut, und ich möchte das nicht missen. Außerdem macht mir meine
Arbeit bei der Agentur zum erstenmal richtig Spaß.“ Die
Deutlichkeit war nicht zu überbieten. Sein erster Impuls war
aufzustehen, zu ihr hingehen und ihr mächtig eine zu scheuern. Daß
er es nicht tat, hätte ihm und Anderen vielleicht das erspart, was
kommen mußte. -
- - - Rudi Bolzenburg steht,
flankiert von zwei Rundpfosten – nach FIFA-Regel exakt 7,32 Meter
auseinander, gekrönt von einer Querlatte, 2,44 Meter an Höhe –
und schaut auf das Spielfeld. Die gleißende Sonne verwirrt ihn;
dieselbe Sonne, die seinen Gegner im anderen tor in der ersten
Halbzeit der Verlängerung im entscheidenden Augenblick so blendete,
daß Rudis Mannschaft nun mit 2:1 führt.
Vor sich also die pausenlos
anstürmenden Kurbosken, der blödsinnig herumgurkende Haufe der
sogenannten Verteidigung seiner Mannschaft, und die unzähligen,
langen weißen Streifen herübergeworfener Klosettrollen. Hinter
seinem Rücken das Gejohle, Pfeifen und die Buh-Rufe der Spielfans,
die ihn offensichtlich fertig machen wollen. - Rudi Bolzenburg steht
mit dem Publikum auf Kriegsfuß. Gut, Rudi hat ein loses Maulwerk,
kann es nicht halten, wenn ein Mikrofon in der Nähe ist. Munter
sprudelt er dann los, ohne große Hemmungen; und je dicker die
Schriftbalken auf den Titelseiten der Blödblätter gerieten, um so
schmaler wurden die Lippen seiner Kameraden beim Training, um so mehr
füllte sich aber auch Rudis Konto. Und als seine Frau Heka sich für
eine namhafte Pimper-Illustrierte splitterfasernackt ablichten ließ,
war der Ofen aus. Nichts über Heka – sie ist eine wirklich schöne
Frau; aber die prüden Reaktionen der Sportfans ließen nur den
Schluß zu, daß sie deswegen neidisch waren, nicht auch so eine
schöne Miezekatze zu haben.
- Achtung, die gegnerische Flanke
kommt! Wohin? Natürlich genau in die Mitte, wo Seelkes steht, der
„Sportler des Jahres“. Ein Witz, dieser Mann, läuft wie ein
beschossener Schwarzenegger-Verschnitt über den Rasen, guckt dabei
so grimmig wie ein Neuntöter auf Fotosafari, alles fürs Fernsehen,
natürlich. Also raus aus dem Kahn, Faustabwehr. Vedammt, tritt mich
diese Arschloch von Seelkes auch noch an den rechten Oberschenkel!
Rudi schreit immer noch seine Anweisungen, seinen Zorn über das
Spielfeld, gestikuliert mit beiden Armen, doch ihn hört keiner mehr.
Er ist heiser, zu oft und zu lange hat er seinen Frust über die
alleinige Verantwortung für den Ausgang dieses Spiels, welche man
ihm übertragen hatte – so glaubt er – hinausgeschrien. Und die
netten Menschen hinter ihm, die Landsleute, die Sportfans? Sie
pfeifen und brüllen sich fast die Lunge aus dem Hals, wenn Rudi auch
nur den Ball berührt. Und singen:
Bolzenrudi, alter Ludi.
Von Hekafrau, der alten Sau.
Ja, Freunde, das geht einem nicht
nur unter die Haut, das geht tiefer, bis zum Herzen, zum Zwerchfell,
und von da bis in den Sack.
Rudi schaut nachdrücklich auf seine
große Sporttasche, die hinter dem Tornetz liegt. Er dreht sich nach
dem Ballabschlag um, und gibt dem Affen kräftig Zucker, indem er dem
Pulk hinter seinem Tor den Vogel zeigt. Da tobt und heult das junge
Deutschland wie ein Mann auf, und dippt die unsägliche
schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge auf und nieder. Zufrieden
grient Rudi vor sich hin, ihm ist egal, was die Fernsehkameras
erhaschen, was sein Trainer meint, was der nationale Fußballboß
denkt – er hat das befriedigende Gefühl , daß dies der Tag der
Tage werden könnte, wenn es der Mob im Stadion so will.
Schon wieder gefährliche Situation
vor dem Tor. Die gegnerische Mannschaft will den Ausgleich, um beim
anschließenden Elfmeter-Schießen die fällige Rückfahrkarte für
Nachhause zu vermeiden.
- Bloß kein Elfmeter-Schießen!
Allein der Gedanke daran setzt bei Rudi schon die Schließmuskeln in
seinem Unterkörper reflexhaft in Bewegung. Er ist sicher: Kommt es
heute zum Elfmeter-Schießen, macht er sich dabei in die Hose. Diese
Exekution, dieses Erschießen eines Tormanns, der, gefangen wie eine
Fliege im Netz zwischen den Torpfosten hin-und herzappelt. Nein, dies
will er nicht mehr mitmachen, besonders heute nicht. Gegen diese
Gefahr liegt eine Kugel mit Plastikumhüllung, circa 225 mm im
Durchmesser, einem Fußball täuschend ähnlich in seiner
Sporttasche. Für den Fall der Fälle hatte er vorher schon
vorsichtig das Hinternetz des Tors gelöst und eine Masche
aufgetrennt, so, daß es die Kontrolleure nicht merkten. Rudis
Gewissensbisse halten sich in Grenzen, da ja auch andere darüber
durch ihr Tun und Lassen entscheiden, ob er handeln wird. Und dabei
hat die Tatsache, daß Heka vor ein paar Tagen ausgezogen ist eine
weit geringere Bedeutung.
Noch zwei Minuten bis zum Abpfiff,
und sie führen immer noch 2:1. Wieder eine hohe Flanke der
Kurbosken. Sie kommt ziemlich steil in seinen Strafraum. Gefährlich
nahe. Raus, oder drinbleiben. Angst vor Drinbleiben, Netz,
handlungsunfähig, gefesselt. Also raus, Gejohle der Menschen. Einige
Kurbosken und Seelkes sind auch schon heran. Was macht Seelkes,
dieser Hurensohn? Stößt mich weg, polkt seine Schulter in meinen
Bauch. Will noch größer sein als ich, erreicht den Ball mit dem
Kopf, der Ball schmiert ab, genau auf den Fuß eines Kurbosken, der
läßt sich nicht zweimal auffordern, Schuß, Tor, Ausgleich.
Torschlußpanik! - Ein Sturm fegt durchs Stadion. Alle Zuschauer
freuen sich, daß sie fürs selbe Geld nun noch mehr Gaudi geboten
bekommen. Ein Kurboske schießt immer und immer wieder den Ball ins
Netz von Rudis Tor.
Rudis Minute ist da. Ihn kümmert
nicht mehr das besserwisserische Gezeter Seelkes, nur noch dumpf hört
er das Pfeifen und Johlen, das Siegesgeschrei der anderen Seite. Er
hechtet auf sein Tor zu, ergreift blitzschnell die runde Kugel aus
seiner Sporttasche. Und für ein paar Sekunden sind zwei Bälle in
der Luft: der Reguläre, der zur Spielfeldmitte fliegt, und Rudis
Ball, der – durch einen mächtigen Tritt von ihm – langsam auf
die Fans hinter seinem Tor zusegelt.
- Die Kameras, die heil blieben,
haben von dem Ereignis selbst – wie sich später herausstellte –
nichts als einen blendenden Blitz aufgezeichnet. Der Knall der
Detonation war viel zu stark, als ihn die Tonabnehmer hätten
verarbeiten können. Jedenfalls hatte Rudi Bolzenburg bei einem
Nettogewicht von 2.980 Gramm, einer Brisanz von 21,2 Staucheinheiten,
und einer Detonationsgeschwindigkeit von 8300m/sek die Höhe der
Zero-Ebene mit 8,40 Meter über Grund – hier die Köpfe der
Zuschauer – optimal berechnet. Und wenn der ehemalige
Sprengstofftechniker und gescheiterter Fußballer noch erlebt hätte,
daß außer den 200 Zuschauern, die durch die Luftmine direkt
zugrunde gingen, noch weitere 1000 bei der anschließenden Panik
totgetrampelt wurden, wäre ihm dies gewiß a u c h recht gewesen.
Eines jedoch hatte Rudi Bolzenburg
erreicht: Große internationale Fußballwettbewerbe finden ab sofort
nur noch in leeren Stadien, vor laufenden Fernsehkameras statt, und
niemals mehr muß sich ein Torwart von den eigenen Fans beschimpfen,
und mit Stahlkugeln und leeren Bierdosen bewerfen lassen. -
Diese – äußerst aktuelle –
geschichte ist im august 1999 in dem band „Die
Reseolre-Legende“, ISBN 3-934806-00-7, von bejot,
erschienen, wobei damals Libri Books on Demand, heute BoD in
Norderstedt die herstellung übernahm.
Das buch ist sowohl als paper als
auch als e-Book im internethandel erhältlich.