Sonntag, 6. Juli 2014

Bums ! Eine Fußball-Tragödie


Bums !
Eine Fußball-Tragödie

Im Labor in seinem Hobbykeller, direkt neben der Hausbar, macht der Mann angestrengt und mit schweißnassem Gesicht die letzten Handgriffe an einer Kugel von ungefähr 225 mm Durchmesser. Vorsichtig schiebt er einen länglichen Hohlkörper aus Plastik durch die mit schwarzen und weißen Penta- und Hexaedern versehenen Hülle. Fertig. Er wiegt das Gerät in der Hand; so circa drei Kilogramm, nicht schwerer als ein mittelgroßer Medizinball. Ein zufriedenes Grinsen geht über sein Gesicht, als er den Panzerschrank öffnet und die Kugel hineinlegt. Nein, er hat auch keine Angst, mit so einem Ding im Haus zu leben, sein bürgerlicher Beruf von früher läßt ihn sicher sein, keinen Fehler gemacht zu haben.
Je näher die Fertigstellung dieses Dings heranrückte, um so ruhiger wurde er; das Ding war eine Art Rückversicherung für seine letzte Vernunft in dem erklärten Krieg, den er nun endlich angenommen hatte. Eines wußte er: Es wird keine Gewinner geben. Ob das auch seine Gegner so sahen war ihm egal, vermutlich sahen sie dies anders.
Oben im Fernsehzimmer biegt seine Frau den Kopf zurück, als er ihr zur Begrüßung einen Kuss geben wollte. Nun ja, an ihm soll es nicht scheitern, er gibt sich immerhin Mühe.
Schirmer hat angerufen. Du sollst zurückrufen“, sagt sie und geht in die Küche. Der Blick, den sie ihm beim Schließen der Schiebetür zuwirft läßt zweifelsfrei erkennen, daß sie die Abendnachrichten im Fernsehen gesehen hat.
, Der Schirmer kann mich mal. Wenn er was will, soll er gefälligst seinen fetten Hintern hierhin bewegen. Und überhaupt: Das Interwiev neulich war von mir nicht zum Senden genehmigt, mit diesen Pressefuzzis gibt es wohl in der nächsten Woche Terror. Denen rotze ich ihre Objektive mal kräftig von oben bis unten voll. '
Seine Frau kommt aus der Küche, der Servierwagen rattert fein über die Fußbodenfliesen: „Hast du Schirmer angerufen?“ fragt sie, nimmt schlürfend einen Schluck Tee, und schaut ihn schräg von der Seite an.
Nein. Ich sehe ihn sowieso übermorgen im Trainingslager.“
Was hast du dir nur bei dem Interwiev gedacht? Schirmer kann dich immer noch rausschmeißen“, sagt sie.
Ich habe diese Gelabere über uns satt. Die sollen uns in Ruhe lassen. Ich bin in der Nationalmannschaft, und das muß genügen.“ Er will sich eine Zigarette anzünden, legt sie aber weg, als er ihren strafenden Blick bemerkt.
Du bist deswegen auch eine Person von öffentlichem Interesse. Wundere dich nicht, wenn die Öffentlichkeit auch Interesse an deinem Privatleben hat.“
Aber ich will das nicht“, sagt er, „der Bundeskanzler und der Präsident sind auch Leute von öffentlichem Interesse, und von denen kommt von sowas nie in die Zeitungen und ins Fernsehen, oder wird ganz schnell dann abgewürgt.“
Klar, Mann!“, spottet sie, „die haben ja auch keinen Werbevertrag mit Koofmich, Beschiß und Betrug, Habgier und Gewinnsucht.“
Aber du, mit deinen Softpornoaufnahmen! Was meinst du, welche Mutmaßungen ich mir über deine Titten und dein Dings-Bums beim Training anhören muß.“
Sie zuckt empört mit dem Kopf hoch: „Ich finde das total unangebracht und frauenfeindlich, wie du über meinen Körper redest.“
Ja, was glaubst du denn, wie Männer über Frauen reden, die sich so wie du darstellen? Meinst du, die reden über Vulva, Brustwarzen oder Venushügel, oder über Po-Backen und so' n Scheiß? Da sind Muschi und Möse, Arschbacken und Pißnelke noch die harmlosesten Ausdrücke!“
Sie schaut ihn mehr verwundert als empört an und sagt: „Das habe ich nicht gewußt.“
Ach, hör bloß auf, das kannst du dir doch denken. Du bist doch nicht von Dummebacken.“
Sie rückt näher an ihn heran, fragt besänftigend, ob er noch Tee nachgegossen haben möchte – er will – und sagt dann: „Du weißt doch, daß wir Beide Verträge haben. Du warst ja auch einverstanden, daß ich bei der Modellagentur angefangen habe. Du wußtest auch, was im Hinblick auf Nacktfotos auf mich zukam. Und jetzt habe ich das Gefühl, daß du neidisch bist, weil ich mehr anschaffe als du mit deinem Sportbekleider und dem Suppenkasper.“
Der Suppenkasper sitzt: von wegen , Kraft auf den Tisch, Saft in den Bauch '. Wütend redet er los: „Es reicht, wenn ich von diesem blödsinnigen haufen auf'm Spielfeld ausgelacht werde. Dann brauch' ich mich nicht auch noch von meiner Frau verspotten zu lassen! Ist ja möglich, du verdienst dabei mehr wie ich, aber du brauchst dir nicht Stahlkugeln und Bierdosen ins Kreuz werfen zu lassen. Wie ich diese Pack hasse! Eines tags lernen die mich mal richtig kennen.“
Sie vernimmt durchaus den drohenden Unterton und sagt: „Denk daran. Dieses , Pack ' bezahlt teuer Geld, um dich spielen zu sehen. Von dem Geld leben wir, leben wir gut, und ich möchte das nicht missen. Außerdem macht mir meine Arbeit bei der Agentur zum erstenmal richtig Spaß.“ Die Deutlichkeit war nicht zu überbieten. Sein erster Impuls war aufzustehen, zu ihr hingehen und ihr mächtig eine zu scheuern. Daß er es nicht tat, hätte ihm und Anderen vielleicht das erspart, was kommen mußte. -

- - - Rudi Bolzenburg steht, flankiert von zwei Rundpfosten – nach FIFA-Regel exakt 7,32 Meter auseinander, gekrönt von einer Querlatte, 2,44 Meter an Höhe – und schaut auf das Spielfeld. Die gleißende Sonne verwirrt ihn; dieselbe Sonne, die seinen Gegner im anderen tor in der ersten Halbzeit der Verlängerung im entscheidenden Augenblick so blendete, daß Rudis Mannschaft nun mit 2:1 führt.
Vor sich also die pausenlos anstürmenden Kurbosken, der blödsinnig herumgurkende Haufe der sogenannten Verteidigung seiner Mannschaft, und die unzähligen, langen weißen Streifen herübergeworfener Klosettrollen. Hinter seinem Rücken das Gejohle, Pfeifen und die Buh-Rufe der Spielfans, die ihn offensichtlich fertig machen wollen. - Rudi Bolzenburg steht mit dem Publikum auf Kriegsfuß. Gut, Rudi hat ein loses Maulwerk, kann es nicht halten, wenn ein Mikrofon in der Nähe ist. Munter sprudelt er dann los, ohne große Hemmungen; und je dicker die Schriftbalken auf den Titelseiten der Blödblätter gerieten, um so schmaler wurden die Lippen seiner Kameraden beim Training, um so mehr füllte sich aber auch Rudis Konto. Und als seine Frau Heka sich für eine namhafte Pimper-Illustrierte splitterfasernackt ablichten ließ, war der Ofen aus. Nichts über Heka – sie ist eine wirklich schöne Frau; aber die prüden Reaktionen der Sportfans ließen nur den Schluß zu, daß sie deswegen neidisch waren, nicht auch so eine schöne Miezekatze zu haben.
- Achtung, die gegnerische Flanke kommt! Wohin? Natürlich genau in die Mitte, wo Seelkes steht, der „Sportler des Jahres“. Ein Witz, dieser Mann, läuft wie ein beschossener Schwarzenegger-Verschnitt über den Rasen, guckt dabei so grimmig wie ein Neuntöter auf Fotosafari, alles fürs Fernsehen, natürlich. Also raus aus dem Kahn, Faustabwehr. Vedammt, tritt mich diese Arschloch von Seelkes auch noch an den rechten Oberschenkel! Rudi schreit immer noch seine Anweisungen, seinen Zorn über das Spielfeld, gestikuliert mit beiden Armen, doch ihn hört keiner mehr. Er ist heiser, zu oft und zu lange hat er seinen Frust über die alleinige Verantwortung für den Ausgang dieses Spiels, welche man ihm übertragen hatte – so glaubt er – hinausgeschrien. Und die netten Menschen hinter ihm, die Landsleute, die Sportfans? Sie pfeifen und brüllen sich fast die Lunge aus dem Hals, wenn Rudi auch nur den Ball berührt. Und singen:
Bolzenrudi, alter Ludi.
Von Hekafrau, der alten Sau.

Ja, Freunde, das geht einem nicht nur unter die Haut, das geht tiefer, bis zum Herzen, zum Zwerchfell, und von da bis in den Sack.
Rudi schaut nachdrücklich auf seine große Sporttasche, die hinter dem Tornetz liegt. Er dreht sich nach dem Ballabschlag um, und gibt dem Affen kräftig Zucker, indem er dem Pulk hinter seinem Tor den Vogel zeigt. Da tobt und heult das junge Deutschland wie ein Mann auf, und dippt die unsägliche schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge auf und nieder. Zufrieden grient Rudi vor sich hin, ihm ist egal, was die Fernsehkameras erhaschen, was sein Trainer meint, was der nationale Fußballboß denkt – er hat das befriedigende Gefühl , daß dies der Tag der Tage werden könnte, wenn es der Mob im Stadion so will.
Schon wieder gefährliche Situation vor dem Tor. Die gegnerische Mannschaft will den Ausgleich, um beim anschließenden Elfmeter-Schießen die fällige Rückfahrkarte für Nachhause zu vermeiden.
- Bloß kein Elfmeter-Schießen! Allein der Gedanke daran setzt bei Rudi schon die Schließmuskeln in seinem Unterkörper reflexhaft in Bewegung. Er ist sicher: Kommt es heute zum Elfmeter-Schießen, macht er sich dabei in die Hose. Diese Exekution, dieses Erschießen eines Tormanns, der, gefangen wie eine Fliege im Netz zwischen den Torpfosten hin-und herzappelt. Nein, dies will er nicht mehr mitmachen, besonders heute nicht. Gegen diese Gefahr liegt eine Kugel mit Plastikumhüllung, circa 225 mm im Durchmesser, einem Fußball täuschend ähnlich in seiner Sporttasche. Für den Fall der Fälle hatte er vorher schon vorsichtig das Hinternetz des Tors gelöst und eine Masche aufgetrennt, so, daß es die Kontrolleure nicht merkten. Rudis Gewissensbisse halten sich in Grenzen, da ja auch andere darüber durch ihr Tun und Lassen entscheiden, ob er handeln wird. Und dabei hat die Tatsache, daß Heka vor ein paar Tagen ausgezogen ist eine weit geringere Bedeutung.
Noch zwei Minuten bis zum Abpfiff, und sie führen immer noch 2:1. Wieder eine hohe Flanke der Kurbosken. Sie kommt ziemlich steil in seinen Strafraum. Gefährlich nahe. Raus, oder drinbleiben. Angst vor Drinbleiben, Netz, handlungsunfähig, gefesselt. Also raus, Gejohle der Menschen. Einige Kurbosken und Seelkes sind auch schon heran. Was macht Seelkes, dieser Hurensohn? Stößt mich weg, polkt seine Schulter in meinen Bauch. Will noch größer sein als ich, erreicht den Ball mit dem Kopf, der Ball schmiert ab, genau auf den Fuß eines Kurbosken, der läßt sich nicht zweimal auffordern, Schuß, Tor, Ausgleich. Torschlußpanik! - Ein Sturm fegt durchs Stadion. Alle Zuschauer freuen sich, daß sie fürs selbe Geld nun noch mehr Gaudi geboten bekommen. Ein Kurboske schießt immer und immer wieder den Ball ins Netz von Rudis Tor.
Rudis Minute ist da. Ihn kümmert nicht mehr das besserwisserische Gezeter Seelkes, nur noch dumpf hört er das Pfeifen und Johlen, das Siegesgeschrei der anderen Seite. Er hechtet auf sein Tor zu, ergreift blitzschnell die runde Kugel aus seiner Sporttasche. Und für ein paar Sekunden sind zwei Bälle in der Luft: der Reguläre, der zur Spielfeldmitte fliegt, und Rudis Ball, der – durch einen mächtigen Tritt von ihm – langsam auf die Fans hinter seinem Tor zusegelt.
- Die Kameras, die heil blieben, haben von dem Ereignis selbst – wie sich später herausstellte – nichts als einen blendenden Blitz aufgezeichnet. Der Knall der Detonation war viel zu stark, als ihn die Tonabnehmer hätten verarbeiten können. Jedenfalls hatte Rudi Bolzenburg bei einem Nettogewicht von 2.980 Gramm, einer Brisanz von 21,2 Staucheinheiten, und einer Detonationsgeschwindigkeit von 8300m/sek die Höhe der Zero-Ebene mit 8,40 Meter über Grund – hier die Köpfe der Zuschauer – optimal berechnet. Und wenn der ehemalige Sprengstofftechniker und gescheiterter Fußballer noch erlebt hätte, daß außer den 200 Zuschauern, die durch die Luftmine direkt zugrunde gingen, noch weitere 1000 bei der anschließenden Panik totgetrampelt wurden, wäre ihm dies gewiß a u c h recht gewesen.
Eines jedoch hatte Rudi Bolzenburg erreicht: Große internationale Fußballwettbewerbe finden ab sofort nur noch in leeren Stadien, vor laufenden Fernsehkameras statt, und niemals mehr muß sich ein Torwart von den eigenen Fans beschimpfen, und mit Stahlkugeln und leeren Bierdosen bewerfen lassen. -

Diese – äußerst aktuelle – geschichte ist im august 1999 in dem band „Die Reseolre-Legende“, ISBN 3-934806-00-7, von bejot, erschienen, wobei damals Libri Books on Demand, heute BoD in Norderstedt die herstellung übernahm.
Das buch ist sowohl als paper als auch als e-Book im internethandel erhältlich.