Peter
Niehren ist tot. - Fritz Pauels musste schnell nachfassen, damit ihm
die zeitung nicht aus der hand glitt, die ihm der krankenpfleger
freundlicherweise zur frühstücksbox beigelegt hatte. Ist das etwa
der Peter, der bis vor ungefähr vier wochen mit ihm genau hier im
selben krankenhaus, auf der gleichen etage, allerdings auf der
anderen seite, nach westen hin, ein zimmer teilte? Nachdem Fritz den
letzten schluck tee – dieses mal war es Kamille, zwei beutel, zwei
stück zucker – ausgetrunken, und die frühstücksbox
zusammengestellt hatte, nahm er die zeitung, und machte sich auf zum
schwesternzimmer. Gerade kam aus einem krankenzimmer die etwas
füllige schwester heraus, die er von seinem letzten
krankenhausaufenthalt kannte, zeigte ihr das blatt mit der
traueranzeige und fragte: „Schwester, wissen sie noch, ob der herr
Niehren, mit dem ich vor ungefähr drei wochen hier in einem zimmer
zusammen gelegt war mit dem vornamen Peter hieß?“
Hierbei
wies er auf die zeitung in seiner hand. Die frau stutzte, sah auf die
zeitung, und sagte sehr schmallippig: „Nein, dass kann ich ihnen
nicht sagen. Bei sovielen patienten kann ich mich nicht an die namen
erinnern“, eilte weiter und ließ den mann mit seiner offenen frage
stehen.
Unter
dem eindruck dieser offensichtlich nicht ganz korrekten antwort fiel
Fritz wieder ein, dass er hier auf der station vor ein paar tagen
nachmittags den s o h n von Peter mit zwei jungen männern
herumwuseln sah, so, als wenn sie irgend etwas vorbereiten wollten.
Da Fritz diesen herrn von seinen krankenbesuchen bei seinem vater
kannte wollte er ihn fragen, wie es denn seinem vater ginge,
unterließ es aber aus einer plötzlichen, unerklärlichen eingebung.
Er
erinnerte sich weiter, dass diese männer in ein krankenzimmer
eintraten, an dessen tür ein schild angebracht war, auf dem
„Quarantäne“ stand und vor „Ansteckungen“ gewarnt wurde, und
dass man sich vor betreten dieses zimmers unbedingt beim
stationspersonal melden sollte. Sehr anschaulich wurde diese warnung
dadurch unterstützt, dass neben der zimmertüre eine stellage stand,
auf der schutzkleidung wie gesichtsmasken, , handschuhe,
ganzköperüberzüge und galoschen aus plastik lagen. Die
unausgesprochene forderung: Bitte diese sachen unbedingt anziehen. -
Auf
dem rückweg zu seinem zimmer kam er an dem zweiten zimmer auf der
station vorbei, an dessen türe sich die gleiche ausstattung befand
wie an der ersten. Und da dämmerte es Fritz: Ist es etwa in
wirklichkeit s o, dass diese zimmer s t e r b e zimmer sind? Und
dies sehr gut getarnt als „Quarantänezimmer“(also lokal
abgetrennt), aber wirkungsvoll inszeniert gegen die stete neugier von
menschen? Dann wäre Peter Niehren vor ein paar tagen hier, ganz in
der nähe von ihm gestorben.
Fritz
überlegt, an welchem tag dies hätte gewesen sein können. War es
der tag, an dem er den sohn von Peter hier auf der station gesehen
hatte, wo er diesen um das befinden seines vaters befragen wollte,
aber ein unerklärliches gefühl ihn davon abhielte? Gut, die
sichtbare hektik des mannes hielte Fritz davon ab, kontakt
herzustellen, denn diese hektik war sicher gegeben durch hier
stattfindende besondere ereignisse – der eigene vater lag im
sterben? –, und für Fritz übertrug sich dieses signal von einem
außergewöhnlichen geschehen nonverbal auf ihn. Ja, so musste es
gewesen sein; an diesem tag war sonst nichts, was ihm in erinnerung
geblieben ist, außer, dass es sehr, sehr heiß war.
-
Die beiden männer Fritz und Peter Niehren kamen damals, als sie
zusammen in dem krankenzimmer lagen, schnell ins gespräch. Peter
wohnte mit seiner familie ebenfalls hier am ort, und zwar auf der
Schwiegerhausstraße, welche nicht weit von der straße liegt, wo
Fritz wohnt. Als sie bei einer banalen unterhaltung über den
Silberberger Teich im stadtpark, und über die direkt daran liegende
Obersieck Villa kamen, erzählte Fritz seine geschichte über dieses
haus.
Als
junger maurergeselle hatte er an dem neubau dieses hauses mitte der
50er jahre dvjhds mitgewirkt. Das besondere seiner arbeit war, dass
er von seinem polier die aufgabe bekam, am haupteingang des sehr
umfangreichen gebäudes die große freitreppe mit Ruhrsandstein zu
plattieren, und die Trachytgewände für die große eingangstür
einzubauen. Das besorgte Fritz mit hilfe eines interessierten,
ungefähr gleichaltrigen handlangers, der bei der baufirma
praktizierte, und anschließend bauingenieur werden wollte. Die
arbeit gelang so gut, dass sogar der bauherr, prokurist einer
örtlichen kratzenfabrik, sich das werk ansah, und den beiden jungen
bauleuten ein flasche guten weinbrand und, etwas heimlicher, einen
großen geldschein zusteckte. Die flasche wurde natürlich von der
gesamten baustellenmannchaft aufgeschlabbert. Und jedesmal, so Fritz,
wenn er, viel, viel später, als er verheiratet war und kinder hatte,
und sie besuch bekamen, und dem besuch einen spaziergang um den
Silberberger Teich, mitsamt der besichtigung des alten mühlengebäudes
am stauwehr anbot, so zeigte er jedesmal, wenn sie an der Obersieck
Villa vorbeikamen sein werk von vor über 50 jahren, fast
unbeschädigt – von kleinen fugenschäden mal abgesehen.
Während
der erzählung von Fritz wurde sein zimmergenosse immer ungeduldiger,
seine miene und seine handbewegungen zeigten deutlich, dass er etwas
sagen möchte, was Fritz interessierte. Peter sagte: „Dann haben
wir uns dort schon mal gesehen. Denn ich habe in das gewände die tür
eingesetzt. Und das war eine schwere eichentür.“
Nun
war aber Fritz baff, und er fragte, ob die löcher für die
türschrauben im trachytgewände auch gepasst hätten, diese löcher,
die er mühsam und vorsichtig mit hilfe eines kronenmeißels und dem
fäustel von hand hineingeschlagen hatte. Gern bestätigte ihm sein
nicht erkannter, aber trotzdem nach 60 jahren wiedergefundener
arbeitskollege, dass alles gepasst hätte, und diese türe wäre
heute auch noch am ort ihres einbaues. Dann fragte Fritz seinen
damaligen bauschreiner-kollegen, ob er sich denn noch an ihn, den
plattenleger erinnern könne.
„Nä“,
sagte Peter Niehren: „Ich kann mich nur daran erinnern, dass der
junge mann eine baskenmütze getragen hatte.“
,Moment',
bedeutete Fritz mit seiner hand, ging zu seinem kleiderspind, griff
hinein, und zog eine baskenmütze hervor: „So eine, wie diese?“und
beide mussten herzhaft lachen. Und dann erzählte Fritz, dass er seit
fast zwei generationen als kopfbedeckung nur baskenmütze getragen
habe, außer einer weißen schirmmütze, die sich in den frühen
fünfzigern dvjhds auf der Holsteinischen Seenplatte bei einem
ausflug per schiff mit einer windböe auf den weg zu den wassernixen
gemacht hatte. Warum er hüte nicht gerne trug führte er auf seine
abneigung zurück, jedesmal bei einer begegnung mit einem anderen
hutträger dieses utensil zur begrüßung vom kopf reißen zu müssen.
Sein heute 44 jähriger sohn trägt ebenfalls eine baskenmütze, und
dies wahrscheinlich eher wegen der kopfbedeckung eines
südamerikanischen idols der damaligen jugend. - Die fama unter
seinen freunden lautete, dass er dieses kleidungstück schon bei
seiner geburt aufgehabt haben soll.
Das
gespräch zwischen den beiden war beendet, als an der
krankenzimmertür geklopft wurde, und besuch für Peter kam. Ein
kleiner junge, wahrscheinlich der enkel von Peter, setzte sich,
nachdem er dem opa das händchen gegeben hatte, flugs vor opas bett
auf den boden, und fing sofort mit seinem schlautöner an zu daddeln.
Der besuch lobte die patienten, dass sie sich in gegenwart der großen
hitze draußen durch das herunterlassen der alu-blenden vor dem
fenster, und dem weiten aufreißen desselben erleichterung
verschafften. Dabei konnte noch niemand ahnen, wie schlimm es in
wenigen tagen mit der hitze erst werden sollte. . .
-Heiß,
heiß, noch heißer! Fritz legt die ausgelesene zeitung zur seite,
und fährt die jalousie vor dem fenster herunter, um die morgensonne,
die nun über die dächer der häuser auf der anderen straßenseite
geklettert ist, abzuschirmen. Aus dem weit geöffneten fenster strömt
zwischen dem sonnenglast immer noch ein kleiner hauch von nachtkühle
von den mauern, dem erdboden, den sträuchern und bäumen in den
raum. Doch spätestens zur mittagszeit hat dieses labsal ein ende,
weil die sommerhitze in jede ecke, jede ritze des raums eindringt und
den menschen klar macht, was ein heißer sommer bedeutet. - Peter ist
tot. Gestorben wahrscheinlich hier, ganz in der nähe; und natürlich
wusste die schwester vor gut einer stunde die richtige antwort auf
eine berechtigte frage. Aber warum wird auf dem heiklen gebiet des
sterbens – auch hier an dem ort, wo wahrscheinlich die meisten
menschen auch und besonders in normalen zeiten sterben – soviel
verschleiert und verschwiegen. Nur manchmal verraten sich die
heilberufler, wie es Fritz einmal selbst erfuhr. Als er vor einiger
zeit hier im krankenhaus wegen einer ruppigen herzattacke aufgenommen
und eingehend untersucht wurde, hatte er nach kurzer zeit keine
äußerlich spürbaren symptome mehr vorzuweisen. Dies fiel natürlich
den untersuchenden ärzten auf. Am ende der untersuchung ergab sich
ein nicht spannungsfreies wortgefecht zwischen dem arzt und ihm,
welches in der frage des arztes seinen höhepunkt erlebte: „Was
wollen Sie eigentlich hier?“, worauf Fritz, überhaupt nicht
aufgebracht oder beleidigt auf diese ehrliche frage des arztes,
ehrlich antwortete: „Ich will gesund werden.“ Als beide, der arzt
und sein assi, herzlich auflachten, grinste Fritz mit, und dies nicht
nur wegen seines mutes, diese antwort gegeben zu haben. Dann klärte
der arzt in einem folgenden, sehr freundschaftlich verlaufendem
gespräch darüber auf, dass man sein – Fritzens leiden – als
neue „Volkskrankheit“ bezeichnen würde. Für Fritz war das das
eindeutige zeichen, dass es mit „gesund werden“, speziell mit
seinen beschwerden, wohl nichts mehr werden wird, denn
„“volkskrankheit“ ist das synonym für „chronisch“.
Es
war folgerichtig, das der körper des 84 jährigen Peter nach dem
einsetzen des herzschrittmachers, auch im angesicht der höllischen
sommerhitze, nicht mehr mitmachte, und mitsamt der geballten
menschlichen technik in der brust des mannes ins grab gesenkt wurde.
- Ja, Peter. Ich komme dich mal besuchen, wenn ich den eingriff hier
überstanden habe. Vielleicht kannst Du mir dann über die noch
lebende maschine in deiner brust m e i n e r maschine mitteilen,
was ich machen muss oder n i c h t machen sollte, um eine etwas
längere zeit zu überleben, als nur e i n e n monat. . .