Montag, 12. Oktober 2015

A u s d e m K r a n k e n h a u s


Peter Niehren ist tot. - Fritz Pauels musste schnell nachfassen, damit ihm die zeitung nicht aus der hand glitt, die ihm der krankenpfleger freundlicherweise zur frühstücksbox beigelegt hatte. Ist das etwa der Peter, der bis vor ungefähr vier wochen mit ihm genau hier im selben krankenhaus, auf der gleichen etage, allerdings auf der anderen seite, nach westen hin, ein zimmer teilte? Nachdem Fritz den letzten schluck tee – dieses mal war es Kamille, zwei beutel, zwei stück zucker – ausgetrunken, und die frühstücksbox zusammengestellt hatte, nahm er die zeitung, und machte sich auf zum schwesternzimmer. Gerade kam aus einem krankenzimmer die etwas füllige schwester heraus, die er von seinem letzten krankenhausaufenthalt kannte, zeigte ihr das blatt mit der traueranzeige und fragte: „Schwester, wissen sie noch, ob der herr Niehren, mit dem ich vor ungefähr drei wochen hier in einem zimmer zusammen gelegt war mit dem vornamen Peter hieß?“
Hierbei wies er auf die zeitung in seiner hand. Die frau stutzte, sah auf die zeitung, und sagte sehr schmallippig: „Nein, dass kann ich ihnen nicht sagen. Bei sovielen patienten kann ich mich nicht an die namen erinnern“, eilte weiter und ließ den mann mit seiner offenen frage stehen.
Unter dem eindruck dieser offensichtlich nicht ganz korrekten antwort fiel Fritz wieder ein, dass er hier auf der station vor ein paar tagen nachmittags den s o h n von Peter mit zwei jungen männern herumwuseln sah, so, als wenn sie irgend etwas vorbereiten wollten. Da Fritz diesen herrn von seinen krankenbesuchen bei seinem vater kannte wollte er ihn fragen, wie es denn seinem vater ginge, unterließ es aber aus einer plötzlichen, unerklärlichen eingebung.
Er erinnerte sich weiter, dass diese männer in ein krankenzimmer eintraten, an dessen tür ein schild angebracht war, auf dem „Quarantäne“ stand und vor „Ansteckungen“ gewarnt wurde, und dass man sich vor betreten dieses zimmers unbedingt beim stationspersonal melden sollte. Sehr anschaulich wurde diese warnung dadurch unterstützt, dass neben der zimmertüre eine stellage stand, auf der schutzkleidung wie gesichtsmasken, , handschuhe, ganzköperüberzüge und galoschen aus plastik lagen. Die unausgesprochene forderung: Bitte diese sachen unbedingt anziehen. -
Auf dem rückweg zu seinem zimmer kam er an dem zweiten zimmer auf der station vorbei, an dessen türe sich die gleiche ausstattung befand wie an der ersten. Und da dämmerte es Fritz: Ist es etwa in wirklichkeit s o, dass diese zimmer s t e r b e zimmer sind? Und dies sehr gut getarnt als „Quarantänezimmer“(also lokal abgetrennt), aber wirkungsvoll inszeniert gegen die stete neugier von menschen? Dann wäre Peter Niehren vor ein paar tagen hier, ganz in der nähe von ihm gestorben.
Fritz überlegt, an welchem tag dies hätte gewesen sein können. War es der tag, an dem er den sohn von Peter hier auf der station gesehen hatte, wo er diesen um das befinden seines vaters befragen wollte, aber ein unerklärliches gefühl ihn davon abhielte? Gut, die sichtbare hektik des mannes hielte Fritz davon ab, kontakt herzustellen, denn diese hektik war sicher gegeben durch hier stattfindende besondere ereignisse – der eigene vater lag im sterben? –, und für Fritz übertrug sich dieses signal von einem außergewöhnlichen geschehen nonverbal auf ihn. Ja, so musste es gewesen sein; an diesem tag war sonst nichts, was ihm in erinnerung geblieben ist, außer, dass es sehr, sehr heiß war.
- Die beiden männer Fritz und Peter Niehren kamen damals, als sie zusammen in dem krankenzimmer lagen, schnell ins gespräch. Peter wohnte mit seiner familie ebenfalls hier am ort, und zwar auf der Schwiegerhausstraße, welche nicht weit von der straße liegt, wo Fritz wohnt. Als sie bei einer banalen unterhaltung über den Silberberger Teich im stadtpark, und über die direkt daran liegende Obersieck Villa kamen, erzählte Fritz seine geschichte über dieses haus.
Als junger maurergeselle hatte er an dem neubau dieses hauses mitte der 50er jahre dvjhds mitgewirkt. Das besondere seiner arbeit war, dass er von seinem polier die aufgabe bekam, am haupteingang des sehr umfangreichen gebäudes die große freitreppe mit Ruhrsandstein zu plattieren, und die Trachytgewände für die große eingangstür einzubauen. Das besorgte Fritz mit hilfe eines interessierten, ungefähr gleichaltrigen handlangers, der bei der baufirma praktizierte, und anschließend bauingenieur werden wollte. Die arbeit gelang so gut, dass sogar der bauherr, prokurist einer örtlichen kratzenfabrik, sich das werk ansah, und den beiden jungen bauleuten ein flasche guten weinbrand und, etwas heimlicher, einen großen geldschein zusteckte. Die flasche wurde natürlich von der gesamten baustellenmannchaft aufgeschlabbert. Und jedesmal, so Fritz, wenn er, viel, viel später, als er verheiratet war und kinder hatte, und sie besuch bekamen, und dem besuch einen spaziergang um den Silberberger Teich, mitsamt der besichtigung des alten mühlengebäudes am stauwehr anbot, so zeigte er jedesmal, wenn sie an der Obersieck Villa vorbeikamen sein werk von vor über 50 jahren, fast unbeschädigt – von kleinen fugenschäden mal abgesehen.
Während der erzählung von Fritz wurde sein zimmergenosse immer ungeduldiger, seine miene und seine handbewegungen zeigten deutlich, dass er etwas sagen möchte, was Fritz interessierte. Peter sagte: „Dann haben wir uns dort schon mal gesehen. Denn ich habe in das gewände die tür eingesetzt. Und das war eine schwere eichentür.“
Nun war aber Fritz baff, und er fragte, ob die löcher für die türschrauben im trachytgewände auch gepasst hätten, diese löcher, die er mühsam und vorsichtig mit hilfe eines kronenmeißels und dem fäustel von hand hineingeschlagen hatte. Gern bestätigte ihm sein nicht erkannter, aber trotzdem nach 60 jahren wiedergefundener arbeitskollege, dass alles gepasst hätte, und diese türe wäre heute auch noch am ort ihres einbaues. Dann fragte Fritz seinen damaligen bauschreiner-kollegen, ob er sich denn noch an ihn, den plattenleger erinnern könne.
Nä“, sagte Peter Niehren: „Ich kann mich nur daran erinnern, dass der junge mann eine baskenmütze getragen hatte.“
,Moment', bedeutete Fritz mit seiner hand, ging zu seinem kleiderspind, griff hinein, und zog eine baskenmütze hervor: „So eine, wie diese?“und beide mussten herzhaft lachen. Und dann erzählte Fritz, dass er seit fast zwei generationen als kopfbedeckung nur baskenmütze getragen habe, außer einer weißen schirmmütze, die sich in den frühen fünfzigern dvjhds auf der Holsteinischen Seenplatte bei einem ausflug per schiff mit einer windböe auf den weg zu den wassernixen gemacht hatte. Warum er hüte nicht gerne trug führte er auf seine abneigung zurück, jedesmal bei einer begegnung mit einem anderen hutträger dieses utensil zur begrüßung vom kopf reißen zu müssen. Sein heute 44 jähriger sohn trägt ebenfalls eine baskenmütze, und dies wahrscheinlich eher wegen der kopfbedeckung eines südamerikanischen idols der damaligen jugend. - Die fama unter seinen freunden lautete, dass er dieses kleidungstück schon bei seiner geburt aufgehabt haben soll.
Das gespräch zwischen den beiden war beendet, als an der krankenzimmertür geklopft wurde, und besuch für Peter kam. Ein kleiner junge, wahrscheinlich der enkel von Peter, setzte sich, nachdem er dem opa das händchen gegeben hatte, flugs vor opas bett auf den boden, und fing sofort mit seinem schlautöner an zu daddeln. Der besuch lobte die patienten, dass sie sich in gegenwart der großen hitze draußen durch das herunterlassen der alu-blenden vor dem fenster, und dem weiten aufreißen desselben erleichterung verschafften. Dabei konnte noch niemand ahnen, wie schlimm es in wenigen tagen mit der hitze erst werden sollte. . .
-Heiß, heiß, noch heißer! Fritz legt die ausgelesene zeitung zur seite, und fährt die jalousie vor dem fenster herunter, um die morgensonne, die nun über die dächer der häuser auf der anderen straßenseite geklettert ist, abzuschirmen. Aus dem weit geöffneten fenster strömt zwischen dem sonnenglast immer noch ein kleiner hauch von nachtkühle von den mauern, dem erdboden, den sträuchern und bäumen in den raum. Doch spätestens zur mittagszeit hat dieses labsal ein ende, weil die sommerhitze in jede ecke, jede ritze des raums eindringt und den menschen klar macht, was ein heißer sommer bedeutet. - Peter ist tot. Gestorben wahrscheinlich hier, ganz in der nähe; und natürlich wusste die schwester vor gut einer stunde die richtige antwort auf eine berechtigte frage. Aber warum wird auf dem heiklen gebiet des sterbens – auch hier an dem ort, wo wahrscheinlich die meisten menschen auch und besonders in normalen zeiten sterben – soviel verschleiert und verschwiegen. Nur manchmal verraten sich die heilberufler, wie es Fritz einmal selbst erfuhr. Als er vor einiger zeit hier im krankenhaus wegen einer ruppigen herzattacke aufgenommen und eingehend untersucht wurde, hatte er nach kurzer zeit keine äußerlich spürbaren symptome mehr vorzuweisen. Dies fiel natürlich den untersuchenden ärzten auf. Am ende der untersuchung ergab sich ein nicht spannungsfreies wortgefecht zwischen dem arzt und ihm, welches in der frage des arztes seinen höhepunkt erlebte: „Was wollen Sie eigentlich hier?“, worauf Fritz, überhaupt nicht aufgebracht oder beleidigt auf diese ehrliche frage des arztes, ehrlich antwortete: „Ich will gesund werden.“ Als beide, der arzt und sein assi, herzlich auflachten, grinste Fritz mit, und dies nicht nur wegen seines mutes, diese antwort gegeben zu haben. Dann klärte der arzt in einem folgenden, sehr freundschaftlich verlaufendem gespräch darüber auf, dass man sein – Fritzens leiden – als neue „Volkskrankheit“ bezeichnen würde. Für Fritz war das das eindeutige zeichen, dass es mit „gesund werden“, speziell mit seinen beschwerden, wohl nichts mehr werden wird, denn „“volkskrankheit“ ist das synonym für „chronisch“.
Es war folgerichtig, das der körper des 84 jährigen Peter nach dem einsetzen des herzschrittmachers, auch im angesicht der höllischen sommerhitze, nicht mehr mitmachte, und mitsamt der geballten menschlichen technik in der brust des mannes ins grab gesenkt wurde. - Ja, Peter. Ich komme dich mal besuchen, wenn ich den eingriff hier überstanden habe. Vielleicht kannst Du mir dann über die noch lebende maschine in deiner brust m e i n e r maschine mitteilen, was ich machen muss oder n i c h t machen sollte, um eine etwas längere zeit zu überleben, als nur e i n e n monat. . .


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