Samstag, 20. Oktober 2007

Die kranken Ungeheuer

DIESTEINZEIT-ung hat beim stöbern im blätterwald ein seltenes, vergessenes pflänzchen gefunden. Ein pflänzchen in form eines essays, welches schon gut fünfundzwanzig Jahre alt sein könnte. Es ist erschütternd, welch eine visionskraft in dieser geschichte liegt. Und zwar im hinblick auf die große seuche, die die welt zu erfassen droht: Der tödlichen krankheit, keine angst mehr vor dem tode zu haben. -
Heute sterben tausende menschen, die gern weitergelebt hätten, aber durch die taten dieser infizierten ungeheuer, die keine angst mehr vor dem tode haben, genau dorthin expeditiert werden, ohne zu fragen, ob sie das wollen.
Es gilt nichts weniger, als diesen kranken ungeheuern ihre waffen aus der hand zu schlagen; waffen, die viel gefährlicher als kriegswaffen sind.
Hilfestellung für diese kranken: Rückbesinnung auf das, was a l l e menschen verbindet, nämlich die liebe zum, und freude am leben. Und zwar lebenswille solange, bis das biologische, oder anderweitige, durch dritter hand erfolgende ende da ist. Und nicht die hand an sich selbst legen. Denn das beinhaltet stets eine schwere störung des fortgangs der evolution, nicht zuletzt auch im hinblick auf die ungefragten opfer bei den selbstmordanschlägen. Insbesondere, weil diese taten heimtückisch, und nicht im offenen, erklärten kampf stattfinden, so, wie es die evolution ebenfalls eingerichtet hat.
Die bezeichnungen von göttern, religionen, kultstätten, personen, institutionen sind beliebig austauschbar in dieser geschichte.
Und nun der wortlaut:

"Gestern sagte er es mir. Drei Jahre, vier Jahre oder auch fünf, und dann ist Ende. Schluß. Ende. Vorbei und aus. Soll ich schreien, herausschreien? Daß es aus ist. Für immer. Was mache ich? -
Ich habe es so gewollt. Die Zeichen zeichneten; die Fragen drängten. Was soll ich. Beten? Heulen? Rasen? Hand anlegen? An mich Hand legen? Gott-. Ich bin allein, trotz Elise. Habe keine Angst davor. Nur, was danach. Habe Angst, was danach.
Meine Zellen sterben ab. Habe keine Zellen übertragen. Der Haufen Zellen wird vergehen, Gott; und keine pflanzt sich fort. Soll ich, oder soll ich nicht. Die letzte Chance Elise. Die Allerletzte. Und was dann? Glauben? Ich hoffe, ich habe ihn. Dann. Wenn. Mich vorbereiten. - Im Kloster? Weihrauch, frommer Gesang. Hinüberdämmern, gehen.
Wohin? - Ich will nicht in den Himmel mit Englein und Petrus. Zu eng. Leben! Gott. Grube auch zu eng. Leben. Gott, Atomzertrümmerer. Meine Atome Hoffnung. Im Feuer. Heiß. Sie spalten sich und bilden eine neue Milchstraße. Wann.
Ich will dabei sein, Gott. Wer spaltet meine Atome, meinen Kosmos. Er darf die Teile nehmen, aber ich will dabei sein. Sein. Gegenwärtig. Gegenwart Elise.
Kollegen. Das bedauerliche Bedauern der Kollegen. Das Mal auf der Stirn: Todgeweiht. - Feuermal? Germania? Walhalla? Achtung oder Scheu?
Elise. Gezeter? Kein verzweiflungsträchtiges Streiten? Nur noch Mitleid? Eine Welt von Mitleid? - Was nutzt dem Verdurstenden das Weltmeer, wenn es salzig ist. Zellteilung einzige Möglichkeit. Elise will nicht, wenn ich es sage; und ich kann nicht, wenn ich es n i c h t sage. Dilemma Zellteilung. Zellen vergehen. Nach Millionen Teilungen. Oder auch schon nach einer. Atome. - Bombe. Soll sie kommen, und ein Ende machen, mit einem Schlag? Sollte ich – sofern ich es könnte – sie ins Ziel leiten? Wo ist das Ziel? -
Man hat es mir also gesagt. Ich habe gefragt. Hätte ich nicht gefragt, hätte man es mir nicht direkt gesagt. Man hätte es mir kurz vor Schluß gesagt.
In der Welt sterben täglich Hunderttausende, ungefragt, ungesagt. Keine Zeit. Keine Zeit vorhanden, sich vorzubereiten. Drei Jahre, vier Jahre oder auch fünf.
Fünf mal dreihundertfünfundsechzig Tage. Wahnsinnig viel Zeit. In fünf Jahren kann man alles erreichen. Wofür erreichen, wenn man dann alles verliert? In dreißig Jahren kann man auch alles erreichen. Gott. - Weltgeist. Ewiger. Leben. Gnade. - Ich glaube nicht an den Himmel, ich möchte aber doch meinen Frieden mit ihm machen. Ich habe keine Angst. N o c h keine Angst. Was ist danach?
In der Narkose. Nichts. Leere. Aber viel zu kurz. Nur vier Stunden. Gemessen an Milliarden ein nichtiges Nichts. Gilt nichts.
Glauben, fest glauben. Pater. Frommer Gesang. Zigarren, Wein und Bier. Leichte Arbeit. Danach Gebet, frommer Gesang. Geborgenheit. Ein Gefühl der Geborgenheit. Leben? Würde ich es durchstehen, drei oder fünf Jahre?
- Leben! Treiben. Treiben lassen? Angeln. Fangen. Erbeuten. Rausch. Toll-rausch. Tollheit? Vorher schon Schluß, Zerstörung, systematisch? Auch anderes Leben? Mitnehmen? Soviel wie möglich? Leiden besser? Jahrelanges Siechtum. Man weiß es nicht.
- Krankenhaus. Weiße Betten. Besuch wird von Woche zu Woche spärlicher. Angst. Verlassenheit, Verzweiflung. Letztes Zimmer. Türen dick gepolstert. Abkratzen. Verzweiflung hoch drei; Angst mal Leiden zum Quadrat. Angst d a – v o r. Gott! Wo bist du?
Gedanken. Gute Gedanken. Vorbereitung. Keine Elise. Alles ist eine Frage der Vorbereitung. Kalender. Kalendertage. Häkchen. Je weiter, um so dünnere und zögerliche Häkchen. Also kein Kalender. - Keine Gedanken zurück, sondern nur nach vorn. Zum Ziel hin. Und schaffen. Freundlich sein. Hilfsbereit, lieben.
Gott. Elise? Man ruht besser in der Liebe anderer, als in der eigenen. Gedanken.
Keine Schmerzen, Gedanken. Eine vorübergehende Trübung? Die Freundlich-keit, Liebe und Hilfsbereitschaft helfen hinüber. Darin ruht man gut.
- Atome. Sie teilen sich – auch dich - ,und bleiben doch Einheiten, Einzigheiten.
Kleinste Einheiten, große Einheiten. Glauben, Materie. Denkende Materie als Seele. Glauben? Glaube an Gott! Den ideellen und materiellen Gott. Mache dir ruhig ein Bild von ihm. Nach deiner Vorstellung. Es wird schon hinkommen. Seele, Geist. Beseelte Materie. Herrlich! Die ganze Welt ein Gott, und ich ein Stück von und mit ihr, mit ihm. Glauben? -
Glaube! Keine Experimente! Kein neuer Glaube. Halte den guten, alten. Die Zeit ist zu kurz, um einen neuen Glauben zu glauben.
Bete Gebete. Nicht flehen! Nicht winseln, nicht bitten! Um was bitten? Bete aufrecht. Rede mit d e i n e m Gott. Du k a n n s t nichts falsch machen! Es war alles richtig. -
Gott. Großer Gott! M e i n G o t t - ."

Abschließend zu dieser geschichte ein sinnspruch für hartleibige, unbelehrbare, unheilbare:
"Was ist zu tun, gegen männer-und frauenmordende, religiöse und politische Eiferer im Glauben, die nur und nur ihre eigene Überzeugung als das einzige und vornehmste Mittel zu Heilung der Welt betrachten?
Mehr F e u e r k r a f t. -"

DIESTEINZEIT-ung wundert sich, warum solche Texte vor fünfundzwanzig jahren nicht den gefallen der kritiker, verleger, des publikums fanden. Lag es etwa daran, dass zu jener zeit ein literarischer engelmacher sein unwesen trieb, und dafür sorgte, dass mindestens eine generation deutscher schriftsteller abgetrieben wurde? . . .

DIE STEINZEIT-ung bietet den fundort dieser geschichte an. Der Band heißt: "Wir alle sind Prokrustes" ISBN 3-934806-01-5

bejot 10/2007

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